TOP
Aus der PETRI NEWS 216-2018

 H.R. Hebeisen
 

Vom Gesichtsbuch und vom Zeitgeist

Vorab eine dringende Warnung: Ihr Jungdynamiker und Jungdynamikerinnen - egal ob erfolgreich oder halt eben weniger, was ja leider nicht selten der Fall ist – lest an dieser Stelle tunlichst nicht weiter! Hier schreibt nämlich ein Grufti. Einer, der seine Bücher (und davon gar nicht wenige) noch ganz gelesen hat. Von Seite 1 bis zum Ende.

Das ist nix für jene Heutigen, welche dem modernen Zeitgeist huldigen. Da braucht man doch zu viel von der kostbaren Zeit, die man zum Chatten und Gamen nutzen könnte. Heute wird ein Buch noch von Seite 132 bis 153 (logo gratis) konsumiert. Und dann gilt es als gelesen.

Ich empfehle an unseren Fliegenfischer-Kursen, dass sich die Leute ein gutes Fachbuch zulegen sollen. Und dazu, vor allem wenn es sich um technische Abläufe handelt, wie das beim Fliegenwerfen der Fall ist, spezielle Schulfilme anzuschauen. Die sind bei dieser Materie dem geschriebenen Wort und der Grafik überlegen. Dabei treibt mich keine Gewinnoptimierungsneurose. Ich meine nicht bloss, sondern ich weiss, dass nur das, was man (auch mechanisch) im Kopf hat, für die Zukunft bleibt. Mit über 75 darf ich das, ohne zu erröten, auch Erfahrung nennen.

Schon mehr als einmal hörte ich dann: „Habe ich schon angeschaut“. So, frage ich, wo? „Youtube“. Richtig, dort kann man z.B. auch meine Schulfilme anschauen. 2 Minuten und 33 Sekunden. Fertig konsumiert binnen 153 Sekunden von insgesamt 60 Minuten, was 3600 Sekunden wären. Das Wissen und der Nutzen daraus bleiben dahingestellt. Immerhin meint der Heutige, er wäre, so gerüstet auch ein Wissender.

Zeit sparen! Das ist der Zeitgeist! OMG, Sry und neuerdings auch Bafo sind Zeugen moderner sprachlicher Untaten. Oh mein Gott, entschuldigen Sie, abgekürzt Sorry, ich muss Ihnen ja noch mitteilen, dass eine Bafo eine Bachforelle ist! Bafi stünde dann für Backfisch, aber auch die Zeit ist längst vorbei, zu der die Leute noch wussten, dass damit nicht Fish & Chips gemeint sind. Dabei war es manchmal schwieriger (und vor allem noch spannender) statt der Bafo einen Bafi zu becircen! Also doch lieber zurück zur Forelle.

Da geht einer hin, rüstet eine Stunde sein Angelzeug, fährt eine halbe Stunde oder länger ans Fischwasser, nachdem er vielleicht sogar vorher (hoffentlich) zum Fachhändler gefahren ist, um sich die fängigsten Fliegenmuster oder Würmer zu besorgen. Dann fischt er eine, zwei oder mehr Stunden und fängt schliesslich eine wunderschöne Bachforelle von 48 Zentimetern Länge. Gratuliere! Logisch „muss“ dieser Prachtsfang ins Gesichtsbuch – pardon, äh sry, Facebook – und dann schreibt der User, dass er der glückliche Fänger einer Bafo von 48 ist. Die Zeitersparnis, um das Wort Bachforelle im Ganzen auszuschreiben ist zirka 0,973 Sekunden! Hat da jemand Verhältnis-Blödsinn gesagt, oder am Ende wenigstens gedacht?

Modern Times wird es genannt. Das war doch der Titel eines (Fast-)Stummfilms, der 1936 in die Kinos kam. Von und mit Charly Chaplin, der mal sagte: „Ich gehe gern durch den Regen, damit mich niemand weinen sehen kann.“

H.R. Hebeisen
Glücklicher EG, sry, Ewig Gestriger